Linda Klösel / Audience / Wenn ihr mich anschaut, schaue ich euch auch an. / ISBN 978-3-9519840-0-1

In Jim Jarmuschs Dokumentarfilm über The Stooges erzählt Iggy Pop, wie er das Stage-Diving erfand. Er sprang in die Menge, um sich auf den Händen seines Publikums durch den Raum tragen zu lassen. Und wehe, wenn ihn keiner auffing. Er wollte seinem Publikum näher sein, seine Energie spüren und diese Kluft überwinden, die ihn von seinen Zuschauer_innen trennte und zu einem Ereignis für sie machte. In Crash-mat (2005) dreht Manfred Grübl den Spieß gewissermaßen um, denn um in seine Ausstellung zu gelangen, müssen sich die Besucher_innen von einem schwergewichtigen Wrestler erst einmal auf die Matte legen lassen. Eine Frage des Vertrauens, das nicht ohne unmittelbare Reaktion aufeinander auskommt.

Nun gibt es in der Rezeptionstheorie zahllose Untersuchungen darüber, in welchem Verhältnis Kunstwerk und Betrachter_in zueinander stehen und welchen Anteil der_die Betrachter_in an der Erschließung und Entstehung eines Kunstwerks hat. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die spezifische Form der Kommunikation zwischen bildendem_r Künstler_in und Publikum hinzuweisen. In der Regel verkehren beide nicht direkt miteinander, sondern sind auf die jeweilige Projektion aufeinander angewiesen, deren Fläche das Kunstwerk ist. So bleibt diese Kommunikation eindimensional asymmetrisch, denn das Kommunikationsangebot der Künstler_innen bleibt meist ohne direkte Reaktion und Dialog.

„Das Publikum“, schrieb der Künstler Allan Kaprow 1966, „muss eliminiert werden“. Kaprows Anliegen war eine systematische und planmäßige Einbeziehung und Aktivierung des Publikums, das über Provokation und Irritation hinausgehen sollte. Das Publikum sollte selbst ein Teil des Geschehens werden und nicht nur Betrachter_in von außen. In einem seiner Kunst-Happenings wurden Zuschauer_innen zuerst in einen engen, dunklen und nur durch Sehschlitze geöffneten Korridor gesperrt, mit polternden Ölfässern und Motorsägenlärm. Ein Rasenmäher trieb das Publikum bis zum Ende des Ganges vor sich her und hier erst fielen die Wände des Korridors, um das Publikum in die gewohnte Umgebung zu entlassen. Erwünscht war nicht länger passives Zuschauen, sondern aktive Teilnahme. Kaprow und andere Happening-Pionier_innen hofften, die Grenze zwischen Zuschauer_innen und Künstler_innen zu verwischen und schließlich zu beseitigen.

In Kidnapped Audience (2005) lässt Manfred Grübl seine Ausstellungsbesucher_innen über einen Schleusengang eintreten, deren Türen sich nur in eine Richtung öffnen lassen, nämlich in die Ausstellung hinein – der Rückweg bleibt für einen gewissen Zeitraum verwehrt. Er bringt sein Publikum in einen Ausnahmezustand, kapert es sozusagen, und zwingt es zu einer Verweildauer, über die er die Kontrolle behält. Eine Face-to-Face-Auseinandersetzung bleibt unausweichlich und sei es darüber, mit welcher Legitimität und unter welcher Bedingung Kunst Freiheitsrechte einschränken und mit welchen Mitteln Kunst einen direkten Dialog einfordern darf. Es geht aber auch um die Durchbrechung eingespielter Rituale und Verhaltenskodexe, denn was sind eigentlich die Anliegen eines Kunstpublikums, das abendlich durch Galerienrundgänge zieht? Ist die Vernissage Standard unter den Abendbeschäftigungen des bürgerlichen Milieus oder dient sie zur Netzwerkpflege für die Kunst- und Kultur-
szene? Welche Rolle spielt dabei die Kunst selbst?

Gehen wir davon aus, dass jedes Kunstwerk auch ein materielles Artefakt und damit ein Ding im Raum ist, stellt sich die Frage: Wie verhält sich das Kunstwerk zum Raum? Und weiter gedacht: Wie steht es um das Publikum als elementare Kategorie im Kunstsetting? Manfred Grübl stellt das Verhältnis Raum-Publikum-Werk immer wieder in den Fokus seiner Arbeiten. Bereits 1998 scannt er mit einem gebündelten, langsam rotierenden Lichtstrahl Boden, Wände, Decke und die im Raum befindlichen Personen. Dieser abtastende „Blick“ geht vom Werk selbst aus und verkehrt die Rezeptionsrichtung (Scanner, 1998). Wenn ihr mich anschaut, schaue ich euch auch an.

Die Elemente des Dreiklangs Raum-Publikum-Werk lassen sich für Manfred Grübl nicht trennen, denn sie bedingen sich gegenseitig. Ändert sich eines dieser Elemente, wirkt sich das auf die beiden anderen aus. In seinen Personal Installations, die er unangemeldet an verschiedenen Orten (Saatchi Gallery, Lincoln Center, Neue Natinonal Galerie, Secession, Sprüth Magers Galerie, Kurimanzutto Gallery, 1999 – 2011) während der Eröffnung unterschiedlicher Künstler_innen realisierte, positioniert er acht uniform gekleidete Performer nach einen orthogonalen Prinzip im Raum. Die Performer, meist ausgebildete Tänzer, nehmen ihre Positionen ein, sobald der Raum mit Publikum gefüllt ist, also am Höhepunkt der Eröffnung. Die energetisch gehaltene Position und die dem nächststehenden Performer zugewandte Blickrichtung spannen einen imaginären Raum im Raum auf, eine unsichtbare Architektur, die subtil die Wahrnehmung und das Raumkonzept beeinflusst. Sichtbar wird die Gesamtstruktur nach und nach, wenn das Publikum die Veranstaltung verlässt. Erst nachdem die letzte Person sich verabschiedet, löst sich die Formation auf.

Manfred Grübl durchdringt mit dieser Arbeit alle drei Parameter, die im Zusammenspiel für ein Kunstereignis von Relevanz sind, denn die Elemente dieser Arbeit spannen unterschiedliche Bezugsrahmen auf, verweisen auf den architektonischen Raum und das Arrangement der gezeigten Kunst und mischen sich gleichzeitig unter das Publikum, wobei sie die Welle seiner Bewegung, seines Auf- und Abtretens, aufnimmt. So verschieben sich gewisse zugeschriebene funktionale Eigenschaften zwischen Raum, Publikum und Kunstwerk. Diese Verschiebung von Funktionen zeigt sich auch in der Arbeit bobbing movement (2003), bei der der Publikumsraum eines Theaters mit seinen versenkbaren Sitzreihen zur eigentlichen Arbeit wird und den performativen Akt übernimmt, während das Publikum auf die hell erleuchtete Bühne gestellt wird. Und wer betrachtet hier nun wen?

Künstlerische Objekte und Ereignisse, sei es in der Kunst oder der populären Kultur, sind ohne Publikum nicht denkbar. Aber Publikum ist, auch wenn man nur die Sparte der bildenden Kunst betrachtet, keineswegs homogen, denn „jetzt produziert die Kunst ihr (jeweils) eigenes Publikum, und die Frage kann nur noch sein, wer daran partizipieren kann“. (Luhmann, 2008). So stellt sich nun auch die Frage nach den Bedingungen, die Kommunikation im Raum der Kunst ermöglichen, bzw. wie eingespielte Kommunikationsstrukturen und Wahrnehmungsgewohnheiten aufgebrochen werden können. Kunstereignisse sind ja immer auch gesellschaftliche Ereignisse, bei denen identitätsstiftende Konstruktionen, individuelle Sozialisierungsprozesse und Zugehörigkeits- bzw. Abgrenzungsphänomene eine Rolle spielen, mit all ihren Ritualen und Codes.

Was, wenn sich bei einer Ausstellungseröffnung unerwarteter Weise die Mitglieder eines Jagd- und Schützenvereins, eines Hundevereins mit seinen ungezählt 20 Hunden und eines Salzburger Rangglerverbandes unter das übliche Kunstpublikum mischen? Manfred Grübl entwickelte für seine Ausstellung in der Kunsthalle Nexus 2017 mit Mitgliedern all dieser Vereine eigene Arbeiten. Ein übergroßer Wolpertinger, auf eine Holzscheibe gebrannt, diente als Zielscheibe für die Schützen des Jagdvereins. Zwei Ranggler zeigten live Griff- und Wurftechniken aus ihrem Kampfrepertoire und Fotografien der Hunde als lebende Objekte im Kunstraum entstanden schon im Vorfeld. Durch diese partizipatorischen Prozesse gelang es Manfred Grübl diese Personen einerseits an künstlerische Produktionsweisen heranzuführen und sie an die Ausstellung zu binden, an deren Eröffnung sie auch mit Stolz und Selbstbewusstsein teilnahmen – waren sie doch aktiv Mitwirkende an ihrem Entstehungsprozess –, andererseits das aufeinander eingeschworene Publikum aus der Kunstszene mit einer ihm völlig neuen Situation zu konfrontieren. Das Aufeinandertreffen dieser Gruppen, deren Unterschiedlichkeit sich übrigens schon in der Kleidung der Besucher_innen zeigte – kamen doch zum Beispiel die Jäger_innen teilweise in traditioneller Trachtenkleidung –, regte neue Kommunikationsformen über Kunst an, bei der auch unterschiedliche Bildungs- und Sozialisationsvoraussetzungen überwunden werden mussten. Eine besondere Rolle spielten dabei die anwesenden Hunde, denn wer kennt nicht das Phänomen, wie leicht unbekannte Menschen beim „Gassi“ gehen in Kontakt kommen. Manfred Grübl spannt hier mit seiner Kunst einen Raum sozialer Interaktion zwischen Gruppen auf, die normalerweise nicht miteinander über Kunst sprechen.

Audience (2020) führt uns wieder zurück an den Punkt, der allem zugrunde liegt: Kunst ohne ihr Publikum existiert nicht. Es ist gewissermaßen der Transformations- und Reflexionsraum zwischen Kunstwerk und Künstler_in. Deswegen wird es seit jeher von Künstler_innen mitgedacht und in den Blick genommen. Wenn ihr mich anschaut, schaue ich euch auch an. In Audience zeigt Manfred Grübl unter anderem eine Reihe von Portraitzeichnungen, eine fast manische Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber. Denn erst durch den Blick auf die jeweils anderen wird ein wesentlicher Schritt zur Selbstkonstituierung vollzogen. Wir halten uns gegenseitig den Spiegel vor.

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