Sabine Coelsch-Foisner / Margit Zuckriegl / Manfred Grübl / Martin Stricker / Verlag Anton Pustet / Das öffentliche Bild / ISBN 978-3-7025-0700-8

Sabine Coelsch-Foisner: Ich freue mich, dass die Universität wieder im Rupertinum zu Gast ist. Mein Dank gilt Margit Zuckriegl, Kuratorin der Ausstellung und Lehrende an der Universität Mozarteum. Ich begrüße Manfred Grübl, dessen Installation Anna Stepanowna Politkowskaja in der Ausstellung gezeigt wird und Martin Stricker von den Salzburger Nachrichten. Was assoziieren wir mit dem ‚öffentlichen Bild‘? Die Studierenden denken an Social Media und Facebook; in meiner Kindheit und Jugend musste man Autogramme sammeln; auch Postkartenfotografie, die fast schon am Aussterben ist, war wichtig für uns. Zu meiner Schulzeit hingen auch noch die Porträts der Bundespräsidenten in den Klassenräumen. Über die sogenannte ‚Choreographie der Macht‘ wurde besonders nach der Öffnung Osteuropas nachgedacht: Wie inszenieren sich Politiker? Wie wird über das öffentliche Bild nationale und kulturelle Identität geschaffen? Margit Zuckriegl leitet seit 1985 die Österreichische Fotogalerie. Wie geht’s du vor, wenn du eine Ausstellung wie Das öffentliche Bild zusammenstellst? Wie kann man sich das vorstellen, angesichts der umfangreichen Bestände im Rupertinum, in der Fotosammlung des Bundes und der Fotografis Sammlung der Bank Austria?

Margit Zuckriegl: Die Bestände, die wir hier im Haus haben und betreuen – es sind ca. 18.000 Fotos – sind in den letzten 30 Jahren einerseits angekauft worden, andererseits als Dauerleihgaben an das Haus gebunden worden. Aus diesen Beständen mache ich zu den verschiedensten Themen Ausstellungen. Man weiß, was man hat, und man weiß, was wenig gezeigt wurde und was man gerne wieder einmal zeigen möchte. Die Arbeit von Manfred Grübl ist als Schenkung einer Stiftung an das Haus gekommen, die diese Arbeit gekauft und uns übergeben hat, weil sie gut in unsere Sammlung passt. Die Physiognomie einer Sammlung ist schon wichtig, auch um wieder etwas zu bekommen und zu akquirieren. Die Arbeit kam sozusagen in der Kiste verpackt und ging so ins Depot. Das passiert mit vielen Arbeiten: Sie kommen herein, als Leihgabe oder Schenkung, und werden nie gezeigt. Bei dieser Ausstellung war die Idee, dieses Bild zeigen zu wollen, und entsprechend wurde auch der Kontext entwickelt. Wir haben zum Beispiel die Arbeit des Künstlerkollektivs G.R.A.M., die ich unbedingt auch einmal zeigen wollte. Ich habe aus dem riesigen Fundus insgesamt ca. 100 Arbeiten ausgewählt. Die Arbeiten sollen die verschiedensten Aspekte beleuchten: historisch gesehen, inhaltlich gesehen, künstlerisch gesehen. Es beginnt um 1900 mit Fotos, die im Zuge des Enzyklopädismus entstanden sind. Es gibt Postkarten, die schon erwähnten Autogrammkarten, bis hin zu künstlerischen Konzepten.

SCF: In der Ausstellung finden sich auch tatsächlich ‚Abbildungen‘ der Wirklichkeit, und das ist eine Vorstellung, die man aus der frühen Theorie der Fotografie mitgenommen hat: Das Bild bilde die Wirklichkeit ab, wenngleich nur einen Ausschnitt davon. In der künstlerischen Fotografie steht nun gerade die ‚Abbildung‘ nicht mehr im Mittelpunkt. Es wird vielmehr inszeniert, manipuliert, eine andere Wirklichkeit erzeugt, die dann fotografiert wird. Ziel ist also nicht ein ‚Abbild‘ der Wirklichkeit, die wir kennen, zu erzeugen, sondern eine Verfremdung, eine Verzerrung der Realität.

MZ: Ja, oder auch ein Kreieren, ein Konstruieren von Wirklichkeit. Das beste Beispiel ist das Künstlerkollektiv G.R.A.M. Was man hier sieht, ist Paparazzi-Fotografie. Das heißt, wir alle denken bei diesem Stil von Fotografie, von Fotobild an gestohlene Bilder, die heimlich gemacht wurden und einen Star zeigen – vielleicht eine Persönlichkeit des Glamour- oder Society-Lebens. Diese Person wird erhascht in einem Moment, als sie in ein Auto steigt oder jemanden trifft, der im Auto sitzt. Das ist aber gar nicht so. Es ist eine konstruierte Situation, die sich bei uns während des Wahrnehmungsprozesses abspielt, weil wir glauben, wir kennen diese Fotos, wir kennen diesen Stil und dessen Bedeutung. Es ist in Wahrheit nur ein Blick aus dem Fenster einer Wohnung in Los Angeles, mit ganz normalen Leuten auf der Straße, aber der Stil evoziert bei uns schon eine ganz bestimmte Wahrnehmung.

SCF: Wie ist das bei Manfred Grübl, der Architektur und Bildhauerei bei Hans Hollein und Bruno Gironcoli in Wien studiert hat? Dreidimensionale Kunst setzt ein bestimmtes Verständnis von Raum und Öffentlichkeit voraus. Man kann sich ein Bild ins Wohnzimmer hängen, aber ein Haus zu bauen, ist ein öffentlicher Akt. Manfred Grübl arbeitet in erster Linie mit Installationen und Interventionen. Es geht immer um das Verhältnis zum Publikum. Eine solche Intervention war die ‚Häuslbauer-Aktion‘. Worum ging es dir da?

Manfred Grübl: Bei der Hausbau-Aktion geht es um das Ausloten von Grundrechten, die jeder Bürger und jede Bürgerin ein Recht vom Staat gewährt. Diese kann man natürlich auch einfordern. Es gibt ein altes osmanisches Gewohnheitsrecht, auf das ich in Istanbul gestoßen bin, wonach ein Haus, das ‚über Nacht‘ auf öffentlichen Grund und Boden errichtet worden ist, nicht mehr abgerissen werden darf. Man kennt das auch von der Hausbesetzer-Szene von Großbritannien, wo das Grundrecht gilt, dass man für eine gewisse Zeit in einem Haus oder einer Wohnung bleiben darf, wenn man irgendwie hineinkommt ohne einzubrechen. Auf dieser Idee baut der ganze Film bzw. der Hausbau auf. Ein Künstlerfreund und ich nahmen einen Bereich im zweiten Bezirk in Beschlag, eine Parkbucht, in der normalerweise Autos parken. Wir sind früh am Morgen hingegangen und haben uns von einem LKW Abbruchholz herunterkippen lassen. Die Alliiertenstraße in Wien ist ein spezieller und sehr frequentierte Ort mit Blick auf den Millenium Tower. Es gibt dort einen Würstlstand, ein Kaffeehaus und eine Disko. Wir wollten die Leute, die dort wohnen, in unser Projekt einbinden. Deswegen haben wir diese Parkbucht ausgewählt. Wir hatten uns vorgenommen das Haus innerhalb eines Tages zu bauen, was uns auch geglückt ist.

SCF: Es war eine einfache Holzkonstruktion …

MG: Genau. Das Haus war so konzipiert, dass es auch realistisch an einem Tag zu bauen war. Am nächsten Tag wurde es mit einem LKW zum Attersee transportiert und in den Attersee gehoben. Das Haus war jetzt kein Haus mehr, sondern ein Boot. Es gibt keine klare Definition, wie ein Boot auszusehen hat, aus diesem Grund war das rechtlich möglich. An einem See und am Meer gelten unterschiedliche Rechte. Der Kapitän ist auf dem Meer die oberste Gerichtsbarkeit, was uns auch entgegenkam. Das Haus sieht zwar aus wie ein Haus, es hat ein normales, am Land übliches Satteldach, das man aber aufklappen und herunterheben kann und die Konstruktion somit zu einer schwimmende Plattform wird. Das Haus lässt sich also wieder ‚auftrennen‘. Das wollten wir in dem Film, den wir dazu gedreht haben, vermitteln. Man sieht, wie wir das Haus verändern, und es endet damit, dass wir in der Dunkelheit mit dem Haus entschwinden.

SCF: Bezieht der Film auch die Reaktionen der Besucher mit ein? Ich denke, die Anrainer waren vielleicht überrascht.

MG: Ja, zum Teil sieht man ihre Reaktionen. Die Aktion wurde vom Standard angekündigt. Es sind viele Leute gekommen, die mit uns kommunizieren wollten, was sehr schwierig war, weil wir unter enormem Zeitdruck standen. Auch am Attersee sieht man die Leute, die uns Fragen stellen. Das ist Teil der Aktion, die wir im Film eingearbeitet haben.

SCF: Du hast in renommierten Galerien ausgestellt: in der Saatchi Gallery in London, im Lincoln Center in New York, in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Ein Projekt heißt Crash Mat. Die Beschreibung lautet: „Performance mit einem schwergewichtigen Sportler, der die eintretenden Ausstellungsbesucher auf die Matte wirft“. Wie hat das funktioniert? Wurde wirklich jeder, der hereinkam, ‚bedient‘?

MG: Das war eine Einzelausstellung von mir in einer Wiener Galerie. Ich habe die Matte im ersten Raum so installiert, dass der- oder diejenige beim Eintreten draufsteigen musste und das war wiederum eine Aufforderung für den Wrestler, diese Person auf die Matte zu werfen.

SCF: Das Foto ist ein wichtiges Medium, um solche Interventionen festzuhalten. Ist das hier auch passiert?

MG: Mir ist in solchen Fällen das Foto immer lieber als der Film, weil das für mich eine präzisere Form der Dokumentation ist. Ich mache auch Videos, zeige das Material aber nie her. Primär gibt es die Aktion, und dann das Bild. Das ist für mich schon genug.

SCF: Das Bild auf der Einladungskarte wirkt wie ein schlechtes Foto von einem Foto, das noch dazu ein bisschen schief dasteht oder -hängt. Doch das ist es nicht. Es ist ein öffentliches Bild über das öffentliche Bild: über ein Portrait der russischen Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006 in Moskau ermordet wurde. Das Bild ging durch die Medien. Was für einen künstlerischen Prozess hat das bei dir ausgelöst?

MG: Ich war 2004 in Moskau, zur Zeit der Geiselnahme in Beslan. Das war sehr dramatisch in Moskau. Die Russen waren alle entsetzt, und man konnte von den Gesichtern ablesen, wie der Kreml vorgehen wird. Die Journalistin Politkowskaja hat versucht zu vermitteln, ist aber dann, laut ihren eigenen Angaben, vergiftet worden und konnte so nicht hinfliegen. Was dann passiert ist, weiß man: 361 Personen, darunter Kinder zwischen sieben und achtzehn Jahren, sind ums Leben gekommen. 2006, als Politkowskaja umgebracht wurde, habe ich umfangreich recherchiert und bin auf dieses Bild gestoßen. Es hat mich von Anfang an fasziniert, und ich habe gewusst, ich mache etwas damit, weil das Bild etwas Absurdes hat. Man sieht einerseits die Lebendigkeit ihrer Person, und andererseits zeigt sich durch die Hand, die da schräg hineingreift und um die Kerze fasst, die ganze Dramatik ihres Schicksals, ihres ganzen Lebens.

MZ: Man muss noch ergänzen, dass nicht das Portrait der Politkowskaja als Grundlage für dieses Objekt von Manfred Grübl dient, sondern ein Foto von einer spontanen Gedenkstätte für Politkowskaja. Das heißt, es hat schon ein kleines Portraitfoto von ihr gegeben. Das wurde am Gehsteig aufgestellt, und an dieser Stelle haben dann Passanten spontan Kerzen und Blumen niedergelegt. Dieses Foto von der Gedenkstätte, das dann durch die Presse ging, ist die Grundlage für die Arbeit.

SCF: Es ist auch nicht einfach ein Foto, auf Papier oder Pappe aufgezogen …

MG: Es ist gerastert. 2006 war die Ermordung, und 2009 ist die Arbeit entstanden. Ich wollte einen Bezug herstellen. Aus diesem Grund habe ich das Bild auch gerastert, wie das früher bei den Zeitungen üblich war, und auf Überlebensgröße – ca. 2,10 Meter – aufgeblasen und ausgedruckt auf einen Kopierer und zusammengeklebt. Das sieht man aber alles nicht, weil davor ein Polizeispiegel steht, der das wieder homogenisiert und das ganze Bild auch verschleiert. Man wird außerdem in irgendeiner Form betrachtet: Wenn man sich hinstellt, steht man natürlich selbst im Bild. Es war mir wichtig, dass es nicht nur ein Bild ist, das an der Wand hängt, sondern dass es eine gewisse Macht bekommt und so hat es sich auch ergeben das es an der Wand lehnt. Es ist nicht perfekt, wenn man es sieht: Man glaubt, es ist schief. Das ist mir eigentlich sehr recht.

SCF: Wir sind beim medialen Bild. Martin Stricker ist als Außenpolitik-Chef bei den Salzburger Nachrichten unter anderem für die Bilder verantwortlich, die wir meist schon beim Frühstück sehen, und die uns oft den ganzen Tag begleiten. Was bekommst du auf den Tisch? Welche Prozesse gehen der Veröffentlichung des Bildes voraus?

MS: Es ist Teil meines Berufes, Bilder zu sichten, zu werten, auszuwählen und zu veröffentlichen. Also keine Kunstwerke, sondern Bilder. Das außenpolitische Ressort ist ein sehr bildmächtiges. Ich bekomme rund um die Uhr Bilder auf meinen Computer geliefert, weil ja bekanntlich immer irgendwo auf diesem Planeten gerade Tag ist. Das erste, was ich tue, wenn ich am Morgen in die Reaktion komme, ist die Meldungen und dann die Fotos zu sichten. Das sind jeden Tag hunderte Fotos, und natürlich hat man einen Filter. Man weiß, was die bestimmenden Themen der Zeit, der Woche, der Tage sind. Das heißt, ich gebe etwa die Filterfunktion „Syria“ ein und schaue, was aus Syrien kommt, gebe die Filterfunktion „Tahrir“ ein und sehe die Fotos vom Tahrir-Platz. Die Bilder sind sehr oft ziemlich grausig. Man legt sich im Laufe der Zeit einen inneren Überlebensmechanismus zu, weil man irgendwann keine toten Menschen oder blutenden Kinder mehr ansehen will. Das sind Bilder, die wir auch nicht veröffentlichen – im Unterschied zu Wochenmagazinen, die von dieser Todesmächtigkeit und Grausamkeit und der Lust der Grausamkeit, die das Publikum oft entwickelt, mehr leben als eine Tageszeitung. Das hat zum einen moralische und ethische, zum anderen auch ganz pragmatische Gründe: Eine Tageszeitung ist ein Informationsprodukt, das unsere Kunden üblicherweise zum Frühstück lesen, und wenn da gleich Blut rausfließt, fällt ihnen das Kipferl wieder in den Kaffee hinein, und sie werden die Geschichte nicht lesen. Das ist genau das, was wir nicht wollen. Eine Bemerkung zum Thema Bild und konstruierte Wirklichkeit: In meinem Bereich soll das Bild idealerweise Wirklichkeit beweisen. Das war auch lange Zeit so, ist aber seit einigen Jahren ganz anders geworden, weil die klassischen Medien mit ausgebildeten Journalisten in der Auseinandersetzung mit den digitalen Medien und den Social Media leicht ins Hintertreffen geraten sind. Uns ist das zum ersten Mal 2009 hochunangenehm aufgefallen, als im Iran der Aufstand gegen die offensichtlich getürkte Wahl des Mahmud Ahmadinedschad losging und der Iran, so wie jetzt am Anfang Syrien, einfach die Grenzen dicht machte und keine Journalisten mehr dort waren, auch keine Fotojournalisten. Das ist das Dümmste, wie Sie sich vorstellen können, wenn man keine Fotos zur Illustration einer Geschichte hat. Dann kamen plötzlich Fotos über YouTube, Facebook und andere Social Media, die alle total authentisch ausgesehen haben. Die Bilder wurden auf der ganzen Welt veröffentlicht, bis man bemerkte, dass viele davon ‚Fakes‘ waren. Daraus haben wir Journalisten natürlich gelernt. Wir veröffentlichen das nicht mehr sofort, sondern versuchen, die Quellen nachzuverfolgen, um eine gewisse Überprüfbarkeit des Wahrheitsgehaltes zu erreichen. Ob das gelingt oder nicht, ist natürlich die nächste Frage.

SCF: Du hast die Brutalität angesprochen. Die Kriegsgräuel waren immer grauenhaft. Merkst du im Laufe der Jahre, dass die Fotos immer drastischer werden? Wie brutal geht es denn eigentlich noch beim statischen Bild?

MS: Das weiß ich nicht. Wenn man sich die Kriegsfotografie aus Vietnam ansieht, war die ähnlich grausig. Es gibt berühmten Fotos und ein Video, in dem der südvietnamesische General den verdächtigen Vietcong einfach erschießt. Es gibt Fotos von sterbenden GIs – das war damals ein Tabubruch. Jetzt ist es kein Tabubruch mehr, und die Fotos werden immer gnadenloser. Die grauenhaften Fotos von Selbstmordanschlägen in Kabul, oder jetzt auch in Syrien, die angeboten werden, werden in den Printmedien, die mir zugänglich sind, nicht veröffentlicht.

SCF: Margit, Du hast auch Ernst Haas in diese Ausstellung genommen. Solche Heimkehrer-Bilder, oder Bilder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Zerstörung zeigen, haben oft auch eine lyrische Qualität. Wenn man zeitlich, und vielleicht auch räumlich, weit weg ist, dann bekommt etwas sehr schnell einen ästhetischen Wert, und der dokumentarische Wert rückt in den Hintergrund.

MZ: Ich glaube nicht, dass es nur der historische Abstand ist, der ein Bild ‚adelt‘ und bereit für das Museum macht. Es sind vor allem die heute nicht mehr so gut herauszuarbeitenden Handschriften, die die damaligen Fotografen hatten. Erich Lessing hatte eine unverwechselbare Handschrift, die in seinen Reportagen, Berichten, Dokumentarfotos zu sehen ist. Er hat dabei für eine Agentur fotografiert, also nicht gezielt etwas ästhetisch Befriedigendes gemacht. Er hat am Ungarnaufstand quasi teilgenommen, war 1956 in Budapest mit dabei und hat das dokumentiert. Die Fotos sind hier, weil ich glaube, dass sie ein Teil von Erich Lessings Oeuvre sind. Ähnlich war es auch bei Inge Morath oder Ernst Haas, die Magnum-Fotografen waren und Bildfutter für Magazine hergestellt haben.

MS: Damals war es natürlich noch so, dass dort das Bildmonopol geherrscht hat, so wie die Zeitungen damals ein Informationsmonopol hatten. Das Bildmonopol der Magnum-Fotografen und das Informationsmonopol der Printmedien sind verloren gegangen. Und ein kurzer Punkt zur künstlerischen Qualität: Wir sind mittlerweile – gerade in der Kriegsfotografie – mit einer Ästhetik und Choreographie des Krieges konfrontiert, sodass wir oft die Bilder gar nicht mehr bringen, weil ich mir denke: „Das ist schon so schön, das passt nicht mehr“.

SCF: Du hast gesagt, die ganz brutalen Fotos suchst du nicht aus. Welche Bilder suchst du aus? Wenn man zum Beispiel an ein Erdbeben mit hunderten Toten denkt, gibt es viele Möglichkeiten für die fotografische Dokumentation: zerstörte Häuser, das Bild einer Person – sehr oft das einer Frau –, das Leid im Gesicht. Das eine hat eine stärkere affektive emotionale Suggestivkraft. Das andere zeigt eher die materielle Zerstörung oder Leid und den Verlust.

MS: Wir nähern uns langsam dem an, was Manfred Grübl am Bild von Anna Politkowskaja so fasziniert hat. Wir können jetzt bei der Auswahl, die wir veröffentlichen, nicht mehr so wie einst davon ausgehen, dass das unser Publikum noch nicht kennt. Das hängt von der Größe des Ereignisses ab. Von dem Erdbeben, wenn ich das Beispel aufnehmen darf, wissen alle, die die Zeitung bekommen, in der Früh bereits und kennen die Bilder. Vor 15 Jahren hätte niemand die Bilder gekannt, und wir hätten natürlich als Informationsmedium die Bilder der Zerstörung gebracht. Wenn wir jetzt Bilder der Zerstörung bringen, langweilen wir das Publikum. Wenn die Nachricht hieße: „Erdbeben stattgefunden“, bräuchten Sie keine Zeitung zu abonnieren, weil Sie das schon wüssten. Unsere Geschichte wäre: „Erdbeben stattgefunden weil Atomversuch misslungen“ – das wissen Sie nämlich noch nicht. Das veröffentlichte Bild in unserem Bereich bekommt mehr und mehr die Rolle einer Illustration. Es muss eine eigene Sprache und Botschaft haben und soll Sie zugleich beim Lesen in die Geschichte ziehen. Wir wissen aus der Leserforschung: Wenn es eine kognitive Dissonanz zwischen der Bildsprache und der Titelsprache der Geschichte gibt, dann steigt mindestens ein Drittel der Leser und Leserinnen intuitiv aus. Das heißt, die Bildsprache und die Titelsprache dürfen sich niemals widersprechen. Wenn wir den Titel „Antarktiseis schmilzt“ haben und darunter ein Foto eines Badestrands zur Illustration, sind die Leute weg. Da liest man nicht mehr weiter und denkt sich: „Was wollen die?“ Diese Text-Bild-Schere, wie es bei uns heißt, versuchen wir tunlichst zu vermeiden. Über solche Dinge haben wir uns vor zehn Jahren noch nicht den geringsten Kopf zerbrochen. Das müssen wir aber jetzt tun.

SCF: Der Mensch hat eine Urlust nach Geschichten, und die Installation von Manfred Grübl mit den Kerzen erzählt eine Geschichte, während das Portrait alleine, wenn man nicht über das politische Geschehen informiert ist, nicht diesen narrativen Wert hat. Gerade in der Reportagefotografie oder Dokumentationsfotografie ist das narrative Element sehr wichtig.

MS: Ja, wir versuchen zunehmend, mit Bildern bereits Informationen zu bieten und auch Geschichten zu erzählen, weil wir uns darauf einstellen müssen, dass das Publikum lieber Bilder schaut als Texte zu lesen. Damit müssen wir natürlich umgehen.

SCF: Und die Bilder bleiben aufgrund ihrer emotionalen Kraft im Gedächtnis.

MS: Wenn wir das Bild haben, das eigentlich schon eine Botschaft und Information hat, ist uns das sehr recht. Deswegen könnte man frecherweise sagen: „Frauen ziehen immer“. Das ist ein alter Journalistentrick. Wir wissen das von der Leserforschung. Frauen, Kinder, Nackte – das sind die drei Motive, die in jeder guten Boulevardzeitung enthalten sein müssen. Blättern Sie die Kronen Zeitung durch, oder die Bild, oder den Blick in der Schweiz. Sie werden genau diese drei Arten von Fotos finden.

SCF: Jeder, der einmal für eine Publikation mit einem Layouter gearbeitet hat, weiß, dass die Bilder nach bestimmten Kriterien ausgewählt und positioniert werden. Kannst du ein paar grundlegende Leitlinien erklären, die auf die Leser eine bestimmte Wirkung haben?

MS: Menschen sollen immer ins Blattinnere schauen und nie hinaus aus der Seite. Das sind ganz uralte Geschichten. Wenn du eine linke oder rechte Seite bei einer Zeitung hast, machst du auf der linken Seite kein Foto, auf dem der Mensch hinausschaut, sondern er soll hineinblicken, weil der Leser dem Blick folgt. Man macht mittlerweile pro Zeitungsseite ein tragendes Bild, vielleicht noch ein zweites kleines, und die Formate der zwei Bilder müssen unterschiedlich sein. Wir gehen mit Bildern mittlerweile sehr sparsam um und versuchen eher, ein großes Bild zu machen als mehrere kleine.

MZ: Beschneidet ihr Bilder?

MS: Ja, mit großem Vergnügen.

MZ: Auch die Reportagefotografen: In der Che Guevara Ausstellung haben wir das berühmte Foto Che Guevaras von Alberto Korda, das jeder kennt. Dieses Foto ist deshalb so eindringlich und berühmt geworden, weil es ein Ausschnitt ist. Es war ein größeres Foto. Es waren noch eine angeschnittene Person und ein Teil von einem Baum drauf, und Korda hat es an irgendeine unwichtige Zeitung gegeben, die es wegen des Layouts beschnitten haben wollte. Feltrinelli hat das dann nach Italien exportiert – inklusive Foto, beschnitten, als originalen Vintageprint von Korda –, und dann hat das Bild von Feltrinelli aus über die Medien seinen Siegeszug angetreten. Also ein beschnittenes Bild.

SCF: Bekommst du im Auslandsressort eigentlich auch schöne Bilder? Wenn man sich frühere Nachrichtensendungen ansieht, auch alte Zeitungen, hatten dort positive Meldungen einen viel höheren Stellenwert als heute. Heute beschränken sich die Informationen weitgehend auf Katastrophen und Unglücksfälle.

MS: Nein, eher nicht.

Publikum: Ich hätte noch eine Frage zum Verhältnis zwischen Fernsehnachrichten und Printmedien – da seid ihr immer hinten nach, oder?

MS: Wir bei der Zeitung verkaufen nicht mehr die Neuigkeit, sondern die Erklärung, die Analyse, die Kommentierung und die Einordnung. Und wir bieten Ihnen eine feinst zusammengestellte, von Profis bestmöglich recherchierte Information über das, was in Ihrer Stadt passiert ist bis über das, was in Kabul passiert ist. Das ist jetzt unser Geschäftsmodell – ein ganz anderes als noch vor wenigen Jahren. Aber es ist schneller geworden – das ist bei den Künstlern sicher auch so, oder?

MG: Ja, viel schneller natürlich. Ich glaube, früher musste alles sozusagen in einem Rahmen sein. Heute kann man viel schlampiger arbeiten. Ich glaube, dass man dieses ‚Schlampige‘ sogar ein bisschen bevorzugt, weil ohnehin vieles schon so geordnet und schön ist. Man will diese Spontanität.

SCF: Wie viel Politik verträgt die Kunst?

MZ: Das Bild von Manfred Grübl ist ein hochpolitisches Bild, und dieser politische impact ist auch Politikkritik. Vor allem Kritik an den Machtdemonstrationen, an der uneingeschränkten Macht, die über Leben entscheidet. Ist das ein Auflehnen gegen dieses Konstrukt beziehungsweise gegen diese Macht? Nimmt man das Bild als Mittel zur Katharsis, um sich zu läutern?

MG: Politkowskaja hat für diverse Zeitungen geschrieben, die kremlkritisch waren. Ich habe gewissermaßen so gearbeitet, wie sie es vermutlich getan hat. Ich habe Material gesammelt und analysiert. Ich wollte nichts Neues erschaffen. Ich habe ihre Leidensgeschichte betrachtet, um etwas zu finden, mit dem ich weiterarbeiten und es so verändern kann, dass es eine gewisse Position in einer Ausstellung einnimmt.

MS: Ich als Journalist, der Bilder auswählt und Berichterstattung macht, würde mir oft ein viel stärkeres politisches Engagement der Künstler wünschen. Das würde mir die Arbeit erleichtern, weil ich einfacher illustrieren könnte und weiß, dass die Geschichten besser rezipiert werden könnten.

MZ: Zur Gesellschafts- und besonders Kapitalismuskritik gibt es schon engagierte Kunst, die vielleicht nicht in den Galerien auftaucht, aber in den Offspaces.

SCF: Die kommt wieder beim Auslandsressort nicht auf den Schreibtisch.

MS: Genau, die kommt bei mir nicht an.

SCF: Herzlichen Dank für das Gespräch!

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