Rainer Fuchs / The Visitor as Performer / ISBN 3-85160-035-5

Manfred Grübls Performances finden außer Programm statt. Sie sind unangemeldet und nutzen den gesellschaftlichen Trubel der Vernissagen für lautlos-unspektakuläre Interventionen. Wenn die Kuratoren und Veranstalter meinen, endlich alles getan zu haben, um der Öffentlichkeit das Feld überlassen zu können, beginnt für Grübls Protagonisten die Arbeit. Sie tauchen auf, wenn auch die anderen Besucher kommen, verteilen sich einzeln im Raum und formieren sich nach vorgegebener Regie, einander durch Körperstellung und Blickrichtung zugewandt. Wie ein erstarrtes Ballett in der bewegten Menge spannen sie dabei ein imaginäres, geometrisch in sich geschlossenes Feld im Raum auf. Sind die Ausstellungsräume mit Menschen gefüllt, ist im Trubel des Geschehens die Gesamtstruktur der Performance nicht unbedingt wahrnehmbar. Erst wenn sich im Laufe und mit dem Ende der Vernissage der Raum allmählich wieder leert, zeichnet sich für die Ausdauernden unter den Besuchern das Feld der Performer deutlich ab.Grübls schwarz gekleidete Akteure sind sowohl Teil der Besucheröffentlichkeit als auch deren Interpreten. Weil ihr Auftritt nicht zum offiziellen Programm gehört, agieren sie aus der Rolle des Publikums, allerdings eines instruierten Publikums, das sich kunstmäßig verhält. Gerade ihre gesuchte Unauffälligkeit, ihre Ruhe und Unbeweglichkeit inmitten des meist hektischen Getriebes lassen sie auffällig erscheinen. Und Irritation als erkenntnisstiftendes Potenzial stellt sich dort ein, wo sich die anderen in ihrem Gegenüber nicht bestätigt und gespiegelt sehen und die inszenierte Inaktivität und Bewegungslosigkeit der einen das Handlungsbemühen und Geltungsbedürfnis der anderen konterkarieren und fragwürdig erscheinen lassen. So geraten durch Grübls Konzept jene Ausstellungsveranstaltungen, die sich in Sicherheit wiegen, Interpretationen in Form von Kunst zu vermitteln, ihrerseits unversehens in den Status interpretationswürdiger Angelegenheiten. Grübls Arbeit bildet also einen metaphorischen Spiegel für die Vernissage, verkehrt sie diese doch in eine Performance ihrer selbst. Eine im Vor- und Umfeld der Kunst stattfindende Eröffnungsveranstaltung in eine verdeckte Performance zu verwandeln, für die dann die Ausstellung, also das eigentliche Kunstereignis, nur den anstoßgebenden Rahmen abgibt, bedeutet, Wertigkeiten und Konventionen ins Gegenläufige zu wenden. Gegenläufige Beziehungen charakterisieren grundsätzlich Grübls Arbeit: Denn deren Sichtbarkeit verstärkt sich mit dem allmählichen Verschwinden der Besucher, und im Verstreichen der Zeit verdichtet und erfüllt sich das Werk. Was zunächst wie ein Szenario versprengter und verlorener Einzelposten inmitten einer homogenen Menge erscheinen mag, entpuppt sich letztlich als klar strukturiertes und stabiles Gruppengebilde gegenüber einer fluktuierenden Zahl von Besuchern. Dass die Zeit verrinnt, erweist sich gerade an der statisch-stabilen Struktur, die von den Performern aufgebaut und gehalten wird. Allein durch ihre Sprachlosigkeit lassen sie die lärmende Geräuschkulisse als Folge einander überlagernder und auslöschender Kommunikationsakte erscheinen. Sie repräsentieren dennoch nicht Sprachverlust und eisiges Verstummen, sondern ihre Stille erscheint im Gegenteil wie ein beredtes Schweigen über das geschwätzige Treiben der Anderen. Systembeschreibung und -interpretation bewerkstelligt der Künstler durch choreografisch kalkuliertes Unterlaufen von Sollhandlungen und Verhaltenskonventionen, wobei die Selbstermächtigung zur Teilnahme am Ausstellungsgeschehen zu den gravierendsten Abweichungen und Tabubrüchen im Kunstbetrieb zählt. Rechtfertigt dieser seine Evaluierung von Qualitätsstandards und Themenführerschaften doch primär durch Abgrenzungs- und Ausschließungsmechanismen, sowie durch meist unausgesprochene, aber stets penibel überwachte Reinheitsgebote. Elitarismus und ein stringentes Konzept der Einbeziehung bzw. Ausgrenzung von Akteuren und ihren Positionen kennzeichnet alle Segmente des Kunstbetriebes, die traditionalistisch-konservativ ausgerichteten ebenso wie die diskursiv engagierten. Nicht erst zu warten, bis man vorgelassen und eingeladen wird, sondern unter Umgehung dieser Initiationsriten diese auch gleich selbst in Frage und zur Diskussion zu stellen, bedeutet, einen im Grunde unerlaubten und unerwünschten Vorgriff zu wagen und – außer Konkurrenz – eine Bespiegelung des Konkurrenzsystems ,Kunst- und Ausstellungsbetrieb’ vorzunehmen. Grübls institutionsreflexive Kunst nutzt die Institutionen, ohne sich vorher mit ihnen zu arrangieren oder von ihnen bestellt zu sein. Damit löst er eine grundlegende Voraussetzung institutionskritischer Kunst ein, die von den meisten ihrer Vertreter seit den 80er Jahren missachtet wurde: nämlich Komplizenschaft und Intervention voneinander zu trennen. Erst die konsequente Missachtung kunstbetrieblicher Teilnahmebedingungen vermag die allseits geltenden Inkonsequenzen kunstbetrieblicher Kompromisse und Widersprüche zum Vorschein zu bringen. Zur Anwendung kommt dabei nicht die absichtlich kunstlose Geste als Kritik an auratisch abgehobener Kunst, sondern geradezu die Verkehrung dieser bereits konventionellen Strategie der Subversion: die Durchdringung des Banalen mit Kunst, d. h. das Markieren des außerkünstlerischen Rahmengeschehens der Eröffnung durch eine ohne Zweifel künstlerisch strukturierte Aktion, und die damit bewirkte Verwandlung der Vernissage in ein Kunstereignis. Subversion gelingt hier also nicht im Attackieren künstlerischer Normen durch Antikunst, sondern in der Verletzung kunstbetrieblicher Verhaltensregeln durch Kunst. Die von Grübl initiierte Rolle der Akteure als performende Besucher und ihr Verhältnis zum Publikum lassen sich in eine Traditionslinie stellen, die ihre paradigmatische Ausprägung in den „untitled events“ besitzt, die unter John Cages Anleitung in den frühen 50er Jahren am Black Mountain College aufgeführt wurden. Entgegen der zeitgenössischen Theatertradition verwendeten Cages Akteure ihre Körper nicht, um die Körper fiktiver Figuren und deren Handlungen zu simulieren und zu spielen, sondern um als reale Personen konkrete Handlungen im realen Raum zu setzen, wodurch sich auch die Rolle des Publikums veränderte. Man hatte sein Augenmerk auf mehrere unterschiedliche, gleichzeitig an verschiedenen Stellen im Raum vorgeführte Aktionen zu richten, sodass man immer auch die anderen Zuschauer als Teil dieser Handlungen wahrnehmen konnte, also zu einem Beobachter nicht nur der Darbietungen sondern auch der anderen Beobachter wurde. Die anderen Besucher in der eigenen Beobachtung als Akteure zu sehen, bedeutete konsequenterweise auch, sich selbst als von anderen beobachteter Akteur zu erkennen. Dies, sowie die Tatsache, sich im selben Raum mit den Performern zu befinden, verstärkte die Selbsterfahrung der Betrachter, reale Mitspieler zu sein.1) Grübl aktualisiert und radikalisiert diese historische Position, indem er seine Akteure quasi inkognito einsetzt und die Gewissheit des Publikums, einem Stück beizuwohnen, überhaupt offen lässt. Er formiert seine Akteure wie eine raumgreifende Partitur, in deren Rahmen sich das Publikum bewegt und – ob bewusst oder unbewusst – sein eigenes Stück bzw. sich selbst darin spielt. Grübls Choreographie offeriert eine brennpunktlose intellegible Bühne, auf der das eigentliche Schauspiel von den Besuchern aufgeführt wird. Während im Theater die Akteure vor dem gewöhnlich still sitzenden Publikum sich bewegen bzw. sprechen, ist es hier umgekehrt: Das Publikum agiert und kommuniziert „vor“, bzw. zwischen stummen Akteuren. Das Prinzip der Gegenläufigkeit gipfelt also im komplementären Spiel der Besucher als Akteure und der Akteure als Besucher. Grübls stumme und starre Tänzer handeln von Distanz und Verknüpfung gleichermaßen, sie lassen ungehinderte Bewegungen zwischen sich zu und spannen dennoch ein räumliches Feld auf, dem keiner entkommen kann. Raum wird dabei nicht als abgeschottetes Faktum, sondern als transparentes Potenzial, d. h. als ein zwar präzise verortetes und ausgelotetes, dennoch auf Durchlässigkeit und Austausch basierendes Phänomen definiert. Damit lässt sich dieses raumgreifende Konstrukt aus Personen letztlich auch als eine Anspielung auf den Ausstellungsraum bzw. den Kunstbetrieb als abgeschlossene, gleichwohl mit dem realen gesellschaftlichen Außenraum mannigfach verflochtene Räume verstehen. Wer also meint, aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit herauszutreten, wenn er sich in Ausstellungen hineinbegibt, betritt doch nur ein weiteres Feld dieser Wirklichkeit, das noch dazu deren Reflexionsraum ist. Er bewegt sich innerhalb miteinander verketteter Realitäts- und Erfahrungsebenen, auch wenn diese Verkettungen auf den ersten Blick nur lose oder gar unsichtbar erscheinen. Grübls Kunst im Vorfeld handelt von solchen feldübergreifenden Zusammenhängen. Die Besucher, als die eigentlichen Verbindungsleute zwischen Alltag und Kunstwelt, zwischen gesellschaftlichem Außenraum und kunstbetrieblicher Innenwelt, werden dabei zu Trägermotiven für interferierende Beziehungen. Und Grübls Akteure bilden eine Art verräumlichte und in den Raum selbst vorgeschobene „Schwelle“, die von diesen Besuchern, ob sie das nun wahrnehmen oder nicht, immerzu übertreten wird, wie um die unhintergehbaren ideologischen Verzahnungen unterschiedlich konnotierter Räume und Felder als ein ohnehin unentrinnbares, allgegenwärtiges und permanentes Geschehen auszuweisen. Dass die Vernissagen selbst, wie einzigartig sie auch immer sein mögen, unter dem Aspekt des Rituellen betrachtet, im Grunde nichts als Wiederholungen des Immergleichen sind, scheint seine Bestätigung auch in der Tatsache zu finden, dass dieselbe Performance an verschiedenen, weit voneinander entfernten Ausstellungsorten aufgeführt wurde. Rituale beschränken sich bekanntlich nicht auf die Sphäre des Religiösen und auf die Kommunikation mit überirdischen Mächten, sondern sie kennzeichnen auch die Regelmechanismen der säkularen Welt. „Alles was ,blind’ akzeptiert und ,traditionalisiert’ wird, kann als heilig betrachtet werden.“2) Mit ihrem konventionalisierten und standardisierten Handeln, in dem sich gesellschaftliche Kommunikations- und Distinktionsformen abbilden und perpetuieren, zählt auch die Vernissage zu den säkularen Ritualen. Und schafft, wie andere Rituale auch, die Möglichkeit, Intentionen und Gefühle zu simulieren, d. h. sich zugleich anteilnehmend und distanziert zu verhalten. „Das Ritual ist nicht ,freier Ausdruck von Gefühlen’, sondern eine disziplinierte Wiederholung der ,richtigen Einstellung’.“3) „Positiv ermöglicht sie (die Distanzierung, Anm. d. Verf.) die kulturelle Entwicklung des Symbolischen. In einem negativen Sinn aber trägt Distanzierung zu Heuchelei und Untergrabung transparenter Wahrhaftigkeit bei.“4) Dem Ritual eignet also ein ambivalentes Potenzial: Es schafft als gemeinschaftsbildendes Handeln, das den Einzelnen in markanten Lebenssituationen zu integrieren und zu entlasten vermag, sowohl die Voraussetzung für ein gelingendes öffentliches und gesellschaftliches Leben, trägt aber zugleich auch die Gefahr der Versteinerung und Einengung dieses Lebens in sich. Mit evolutionären Prozessen gleichgesetzt, dienten und dienen Rituale der Naturalisierung von Geschichte und der Immunisierung von Macht. Die auch dem Ritual der Vernissage inhärente Distanzierung, Formalisierung und Wiederholung von Gesten und Verhaltensweisen findet in Grübls choreographischer Formation eine Art metaphorisches Pendant und eine Sichtbarkeitsfalle. In der paradoxen Figur des bewegungslos stummen Tanzes und des gleichsam im Raum vervielfachten Akteurs bilden sich die Motive der Distanz, der modulartigen Repetition, in einer zirkulär kurzgeschlossenen und versteinerten Bewegung ab. Das Ritual als in Konvention erstarrte repetitive Handlung, als stumme Einübung ins bereits Festgeschriebene verfängt und visualisiert sich in Grübls realsymbolischem Koordinatensystem. Innerhalb eines Rituals von dessen Fallstricken zu handeln und dies selbst in Form einer rituellen Geste, nämlich jener des innehaltenden Tanzes, vor Augen zu führen, erscheint wie das Implantieren eines bewusstseinsfördernden Spiegels in ein meist selbstvergessenes Spiel.

1) For the “untitled events” by John Cage see: Erika Fischer-Lichte: Grenzgänge und Tauschhandel – Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, in: Performanz -
Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften (Pub.: Uwe Wirth), Frankfurt am Main 2002, pp. 277- 300
2) Stanley J. Tambiah: Eine performative Theorie des Rituals, in: Performanz, see quot. 1), pp. 210-242, p. 216
3) ibid., p. 221
4) ibid., p. 220

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