Manfred Grübl / Linda Klösel / Jürgen Klauke / magazine version NR. 1

MANFRED GRÜBL / LINDA KLÖSEL
Laut John Cage (1986) hat die Kunst des 20. Jahrhunderts „eine sehr, sehr gute Arbeit geleistet. Die Augen der Leute zu öffnen. […] Aber jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden, und diese Dinge sind sozial.“ Was hat sich für Sie seit den 70er Jahren und besonders nach 9/11 verändert? Hat Kunst heute noch diese aufklärerischen und gesellschaftsverändernden Aspekte oder ist sie vielmehr lediglich Ware, Repräsentations- oder Kommunikationsmittel? Welche Erwartungen an Kunst können heute aus Ihrer Sicht gestellt werden?

JÜRGEN KLAUKE
Was John Cage da sagt, ist sehr ehrenwert, aber deshalb müssen wir nicht alle Sozialarbeiter werden. Wir haben im letzten Jahrzehnt viele solcher guten Absichten in der Kunst erlebt – es gab da meistens viel zu hören und zu lesen und wenig zu sehen. Man hätte an den jeweiligen Orten Tage, wenn nicht Wochen verbringen müssen, um dem Anspruch gerecht zu werden – es scheint mir die falsche Form –, da bevorzuge ich ein Buch oder einen Themenabend bei Arte. Was die 70er angeht, so waren sie ein künstlerisches Labor mit extrem hoher Risikobereitschaft und Experimentierfreude – nach den 20ern und 30ern wohl der intensivste Ausstoß unterschiedlichster Konzepte in die jüngere Kunstgeschichte hinein. Das Echo hält an, in häufig leider weniger widerstandsfähigen Entwürfen (überwiegend aufgeblasene und uninspirierte Wiederholung). Natürlich waren die 70er auch politischer und gesellschaftsbezogener in den unterschiedlichsten künstlerischen Ausformungen. Trotz einer mehr als schiefen Welt tut sich da heute wenig, und die künstlerischen Schnellschüsse nach 9/11 versandeten überwiegend im harmlos Illustrativen oder verkamen zum Kitsch. Bleibt ja auch die Frage, was man der Wucht eines solchen medialen Bildes wie des 11. September entgegensetzen kann. Dieses Ereignis hat Amerika verändert, und die Dauerbefeuerung ähnlicher Ereignisse hat die Welt verändert. Die Ereignisse selbst als auch in der Folge die Reaktionen verlangen höchste Aufmerksamkeit von uns. Mein Blick auf die Welt hat sich geschärft, aber nicht nennenswert gewandelt. Sie verändert sich zu einem noch größeren Irrenhaus, in dem wir uns immer wieder einrichten – Scheitern inbegriffen. Aspekte davon finden sich in meiner Arbeit. Meine Erwartung an die Kunst wäre weniger Unterhaltung, weniger Retro und den Begriff der Kunst abspecken. Natürlich waren und sind die Erzeugnisse unserer Arbeit letztendlich Ware. Die Frage ist und bleibt, ob der Gedanke an dieselbe schon beim Machen das Bewusstsein trübt und die Arbeit auf ihre Markttauglichkeit hin beeinflusst.

M.G. / L.K.
Eine der brisantesten Arbeiten ist die Serie „Antlitz“. Sie sammeln und zeigen seit den Olympischen Spielen 1972 bis zum jetzigen Zeitpunkt Bilder von Maskierungen, die eigentlich keine Chronologie dokumentieren. Wie hat sich für Sie nach 35 Jahren die Arbeit verändert und wohin, glauben Sie, wird sich diese Arbeit noch bewegen?

J.K.
Die 96-teilige Arbeit wurde 2000 für meine Retrospektive in der Bundeskunsthalle Bonn abgeschlossen und ist seit einigen Jahren im Besitz der Nationalgalerie in Berlin. Die zweite Auflage wird gerade in einer Themenausstellung „Masken“ der James Cohan Gallery in New York gezeigt. Diese spezifische Arbeit „Antlitze“ bewegt sich also nicht mehr weiter, aber, so darf ich hoffen, in den Köpfen der Betrachter. Mein persönliches Interesse wurde zum einen durch die Maske an sich geweckt, und zwar durch jene, die Anonymität will und gleichzeitig mediale Präsenz benötigt zur Vervielfachung ihres Anliegens. Also nicht: Maske übern Kopf – rein in die Bank – Geld her – raus aus der Bank – Maske ab und nichts wie weg. Die „Antlitze“ zeigen die anonymen Ikonen der Medienwelt als signifikante Antlitze einer immer anonymer werdenden Welt. Die Vermummungen löschen Identitäten und schaffen gleichzeitig neue. Die Antlitze ohne Gesicht werden durch ihre Dauerpräsenz wieder zu Gesichtern, durch uns, die in ihnen zu lesen lernen. Beim Lesen in den neuen Weltgesichtern kann man über all das Gesagte hinaus ins Stolpern kommen, denn die Zugehörigkeiten von „gut“ und „böse“ sind verwischt, seitdem Militär, Polizei und Sonderkommandos ebenfalls die Anonymität beim Aufspüren des Anonymen vorziehen – sodass man am Ende nicht mehr weiß, wem man ins Antlitz schaut.

M.G. / L.K.
„Nach Veränderung rufen alle, die sich langweilen.“ (Søren Kierkegaard) Für ihn ist die Langeweile einerseits eine schöpferische Kulturtechnik, andererseits die „Wurzel allen Bösen“. In den 80er Jahren haben Sie sich in Ihrer Werkgruppe „Formalisierung der Langeweile“ intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Was hat Sie damals dazu veranlasst und hat dieses Thema heute noch für Sie Relevanz?

J.K.
Mein Leben hatte an Fahrt aufgenommen: entweder – oder, alles und noch viel mehr, und irgendwann wird’s dann langweilig. Immerhin bemerkte ich das noch, und beim anhaltenden Bemerken erreichte ich eine Talsohle, die man unter anderem auch als Langeweile und Arbeitsblockade bezeichnen könnte. Am meisten bemerkte ich mich in der Folgezeit allein im Raum, gekoppelt mit dem Unbehagen dieser Dauerselbstwahrnehmung und sinnlos verrinnender Zeit. Irgendwann ging es dann darum, meine Einbildungskräfte, die mir diesen Zustand wohl noch weiter ermöglicht hätten, in Vorstellungskräfte umzubiegen, die letztendlich aus diesem Zustand in eine reflexive Phase führten und von da zu der opulenten Werkgruppe „Formalisierung der Langeweile“. Vergleichsweise zur Philosophie oder Literatur findet sich in der bildenden Kunst wenig zu diesem so schönen und schrecklichen Phänomen – am ehesten noch bei Hopper oder Bacon. Natürlich hat das Thema heute Relevanz, mehr denn je. Werfen Sie einen Blick in die Leere der Gesellschaft, in ihren Spiegel – die Medien. Die Symptome müssen ja nicht die gleichen sein wie bei mir. Es gibt viele Auslöser oder Ursachen, in den Genuss oder das Verhängnis zu steuern oder gesteuert zu werden. Mich wundert nur, wie wenig die zeitgenössischen Künste, die Soziologie oder die jüngere Philosophie sich damit auseinandersetzen – gerade weil es in den unterschiedlichsten Ausformungen sichtbar ist. Bei Gesprächen und Recherchen im Vorlauf der Realisierung meiner „Langeweile“-Arbeit stieß ich auf höchste Tabuzone. Man langweilt sich nicht – oder hat sich nicht zu langweilen. „Effizienz“ heißt das Wort, das die Welt umtreibt.

M.G. / L.K.
Ihre fotografischen Arbeiten haben eine äußerst perfektionistische und beinahe entrückt wirkende Ästhetik. Der theaterhafte Aufbau, die Schwarz-Weiß-Kontrastierung oder gar nur schwarz in schwarz, die enterotisiert wirkenden Figuren. Durch diese Distanzierung wird eine Sehnsucht nach Annäherung aufrechterhalten. Entspricht das dem Schwebezustand der Sehnsucht nach der Überwindung der Lücke zum grundsätzlich Anderen, einem Thema, dem Sie sich immer wieder zuwenden, und was bedeutet für Sie die Aufrechterhaltung dieser unüberwindbaren Sehnsucht?

J.K.
Ihre Frage ist schon so poetisch formuliert, was soll ich da noch sagen? Da ich nicht nur die Bilder liebe, sondern auch Worte, zählt „Sehnsucht“ u. a. zu einem meiner Lieblingswörter. Nicht romantisch – sondern das Süchteln – die Sehnsucht nach der Sehnsucht – nach was? Das Kreisen um die Leerstellen, die sich immer wieder einstellen, die Nicht-Einlösung der Heilsversprechen etc., sinnlich und bildlich erfahrbar zu machen ist mein Ziel. Der minimalistische, nicht narrative Bildbau, gepaart mit, wie Sie sagen, „entrückt wirkender Ästhetik“, entspricht meiner Intention und Strategie. Die Frage als Zeichen, letztendlich als Bild, muss wirken – nicht um Antworten zu geben, sondern die Frage ist Bild geworden, und je nach Intensität oder Wirkung aufs zentrale Nervensystem des Betrachters kommt er näher ans Bild und an sich selbst. Da, wie ein kluger Kopf einmal sagte, „nichts ist, wie es scheint, und wo es scheint, da ist nichts“, bin ich mir der Sehnsucht allgegenwärtig, und sie treibt mich zu weiteren Formulierungen, die sich danach sehnen, mich meiner und der Welt zu vergewissern und Bilder und Szenarien zu entwerfen, die mir und dem Betrachter ermöglichen, anwesender zu sein.

M.G. / L.K.
Man könnte Ihre Arbeiten als performative Fotografie bezeichnen, inszenierte Handlungen ohne Livepublikum. Wo liegt der Unterschied, wenn Sie, besonders, da Sie selbst als Akteur auftreten, Liveperformances vor Publikum geben, und wie wirkt dieses auf Ihre Aktionen ein?

J.K.
Seit 1970 mache ich das, was wir heute inszenierte, performative oder im weitesten Sinn konzeptionelle Fotografie nennen. Die Liveperformances setzen erst 1975 ein. Da ich aber sowohl in meinen Performances agiere als auch in den meisten Fotoarbeiten präsent bin, verwechselt sogar manchmal die Kunstwissenschaft die Begriffe. Meine Liveperformances sind der Wunsch nach direkter Konfrontation – hier und da auch nach Auslotung der eigenen Belastbarkeit. Sie resultieren inhaltlich meistens aus vorangegangenen Werkkomplexen, erscheinen demonstrativer, direkter – meist durchsetzt mit dem nötigen Maß aggressiver Poesie. Mehr als dreimal habe ich keine aufgeführt. Das zweite und dritte Mal als eigenes Korrektiv. Weitere Aufführungen würden die Sache für mich verflüssigen. Übrig bleibt, wenn zulässig, ein Videodokument oder eine kleine Fotodokumentation, die den zeitlichen Rahmen und dramaturgischen Verlauf zeigt. Bei einer solchen Liveperformance, in der direkten Konfrontation, der Akteur und Autor als leibhaftiges Gegenüber, hat der Betrachter beim ereignishaften Erleben eine direkte Identifikationsmöglichkeit. Er wird emotionalisiert und dank meines meist durch Minimalismus und Aggression gestützten „Vortrags“ irritiert. Mit meinen inszenierten Fotos hat das nichts zu tun – in gänzlich anderer Form wird über dasselbe nachgedacht.

M.G. / L.K.
Es gibt im Theater ja die Theorie, dass Zuschauer, die am Rand einer Tribüne sitzen, sich immer in die Mitte denken. Als Künstler hat man sozusagen eine Sonderstellung, man ist Autor und Betrachter, und in Ihrem Fall sind Sie ja auch noch Akteur. Ist das für Sie ein Spiel mit den wechselnden Rollen und welche Positionen nehmen diese Rollen untereinander ein?

J.K.
Jeder Künstler ist Autor und Betrachter. Ab einem bestimmten Punkt ist ein Bild fertig oder eine Werkgruppe abgeschlossen und stellt sich der Betrachtungsweise einer Öffentlichkeit, die mit der meinen nicht übereinstimmen muss. Was in meinem Fall die Anwesenheit im Bild betrifft, über den gelegentlichen Vorwurf des Narzissmus in den 70ern hinaus, sehe ich mich als Material, auch als Stellvertreter für das jeweilige Menschenbild. Als Autor im Bild unterstreiche ich auf subtile Art und Weise die Authentizität der Bildaussage oder -intention (des Bildtextes). Auf andere Art und Weise habe ich in der sehr aus dem Schwarz agierenden Werkgruppe „Very de Nada“ mit dem Rollentausch Autor/Betrachter gespielt, explizit in der Arbeit „Gespannte Spanner“. Das Bild betrachtet den Betrachter, „lichtet ihn ab“ beim Betrachten.

M.G. / L.K.
In Ihren neueren Arbeiten verzichten Sie auf Objekte wie Tische, Stühle, Hüte, Stöcke etc. Nun stehen Haare als Handlungsrequisit im Mittelpunkt. Geht es um eine Verschmelzung mit dem grundsätzlich Anderen, ein Verwachsensein des Männlichen mit dem Weiblichen? Die Haare scheinen ein Art wüstes Eigenleben zu entwickeln, mit dem die Person unweigerlich und untrennbar verbunden ist. Wird hier die Sehnsucht nach Annäherung abgelöst durch die Sehnsucht nach Freiheit?

J.K.
Die neuere Werkgruppe, die in Gänze noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, trägt den Arbeitstitel „Wackelkontakt“. Ein Teil, auf den Ihre Frage abzielt, hat den Titel „Aesthetische Paranoia“. Ich, ein großes weißes Bett und 3,60 Meter langes, schwarzes Haar in einem nicht näher definierten Raum. Sinnlichkeit und Kältezonen, Überhitzung und Schrumpfung, Ernst und Lächerlichkeit, destillierte Momente dieser feierlichen, paranoiden Bildekstasen. Wie so oft sind es Zonen des Unaussprechlichen und Unerklärbaren, die Bild geworden sind. Und wie so oft bei mir geht es in immer neuen Formulierungen um das Alleinsein im Raum und in der Welt und alles, was an seidenen Fäden daran hängt. Entscheidend ist für mich, neue Ahnungsräume oder -zustände zu schaffen, in mehr oder weniger kontrollierten Bildanfällen. Der bereinigte Bildraum macht Platz für den Betrachter und fordert ihn auf einzutreten.

M.G. / L.K.
Bei Ihren Arbeiten nimmt man immer auch einen Rhythmus wahr, der durch die Titel verstärkt wird. Es schwingt eine Art Sound in der Luft. Søren Kierkegaard schreibt, „die abstrakteste Idee, die sich denken lässt, ist die sinnliche Genialität,“ die er am besten über die Musik verwirklicht sieht. Welche Bedeutung haben für Sie Sprachrhythmus und Musik?

J.K.
Titel stehen bei mir als Teil der Arbeit, keineswegs als Erklärung. Sie sind eine weitere Ebene. Wenn ich dabei vom Sound oder Klang dieser Wörter spreche, wie z. B. Sonntagsneurosen oder Zweisamkeitsimaginierung etc., dann rechne ich mit ihrer bildöffnenden oder den Bildraum erweiternden Dimension. Das Wortgebilde ragt ins Bild – so könnte es im besten Fall sein. Jemand schrieb mal über die großen, blauen Bilder des desaströsen Ich: „Die Augen hören den Soundtrack der Bilder, der durch den Titel verstärkt wird.” Eine interessante, sinnliche Wahrnehmungsformel – hat mir gefallen.
Zu ähnlich erhöhter Wahrnehmung über das Wortbild kommen wir ja auch in der Dichtung oder beispielsweise in der experimentellen Lyrik. Dada, Artaud, Celan, Rilke, Hölderlin oder ihr Landsmann Jandl und andere stehen für Wortneuschöpfungen für diese Bilder und Klänge, die keine Frage beantworten, aber Aufmerksamkeit für die Frage schaffen.

M.G. / L.K.
Zum Abschluss noch eine Frage, die den Kunstmarkt und die Messen betrifft. Es wird behauptet, dass mittlerweile auf Messen eine höhere künstlerische Qualität zu sehen ist als in Museen oder auf Biennalen. Nicht erwähnt werden bei solchen Behauptungen die vom Markt nicht besetzten Felder. Kann in einem solch inflationären Supermarkt überhaupt noch eine ausdifferenzierte Wahrnehmung von Kunst stattfinden?

J.K.
Ich habe diese provokante These auch wahrgenommen, in einem Artikel über Venedig, Kassel, Münster etc. (2007). Aber Kernfrage ist, wieweit die fast 100 jährlich weltweit stattfindenden Biennalen, die documenta und andere Großveranstaltungen oder dievöllig verändert auftretenden Auktionshäuser von den vielen Kunstmessen zu trennen sind. In alles spielt der Handel, der Markt, letztendlich hinein – er beherrscht die Szenerie. Das war schon immer so. Wenn es aber so ist, dass nicht mehr die Kunst der Wert an sich ist, sondern die Summe, die gezahlt wird, oder die damit in Verbindung gebrachten Personen, dann sieht es für die Kunst nicht gut aus. An sich sollten wir uns über den fast inflationären Zuspruch im Sinn von „ohne Kunst geht gar nichts” freuen, aber in seiner Beschleunigung und Endlosbewegung nach immer mehr und neu wäre eine Ermüdung oder Verlangsamung fällig. Ab dann ist auch die angesprochene ausdifferenzierte Wahrnehmung wieder im Spiel, die auch außerhalb dieses Hypes nach wie vor möglich ist – dafür benötigt man Zeit und eine eigene Vorstellung. Ein Unbehagen – obwohl wir wissen, dass Kunst, Geld und Macht immer eine Allianz bildeten – bleibt.

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